Kleiner weißer Vogel

Kleiner weißer Vogel

Brigitte Hundt


EUR 22,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 410
ISBN: 978-3-99146-443-3
Erscheinungsdatum: 11.03.2024
Seine Freundin betrügt ihn, sein Bruder verunglückt tödlich. Als er auch noch erfährt, dass er adoptiert wurde, bricht der junge Student Lennart alle Brücken zu seinem alten Leben ab. Die Suche nach dem Glück des Lebens beginnt.
1. Kapitel

Es ist noch hell an diesem Sommerabend, Lennart steht am Fenster und betrachtet die prächtige Birke vorm Haus. Ihre Blätter schaukeln vom leichten Wind hin und her, wie kleine Uhrpendel, hin, her, hin, her. Seine Augen lösen sich von dem Spiel, er geht zum Schreibtisch zurück, muss weiterarbeiten. Wenn das nur ginge? Er ist nervös, hat ein Problem, ein Zeitproblem, das ihn schon länger quält. Er steht wieder auf, streicht durch sein volles Haar, schiebt es zurück, will sich entspannen, doch die Gedanken kreisen. Wann hat er seine Schulfreunde zuletzt getroffen? Lange her. Seinem Bruder und der Schulband zugehört? Auch lange her. Wandern, malen, nicht dran zu denken. Wie machen andere Studenten das? Warum jobbt er auch zweimal die Woche in einem Planungsbüro? Verzichten möchte er aber nicht auf den Zuverdienst. Schwierig. Eine Lösung muss her, denn da ist auch seine Freundin Katrin, die fast jede freie Stunde bei ihm verbringt. Er liebt sie, hätte aber gern mehr Freiraum für sich. Während er grübelnd hin und her geht, kommt vom Sessel ihre Stimme.
„Du läufst auf und ab wie ein Tiger im Käfig, was ist mit dir?“
„Was mit mir ist? Ich bin unzufrieden, nervös, unruhig, könnte eine Auszeit gebrauchen, Urlaub wäre gut. Ich muss einfach mal raus, weg von allem.“
„Ja, machen wir doch mal Urlaub, wohin wollen wir? Ich schaue gleich mal ins Internet …“ Katrin springt auf, will ihn umarmen, doch er nimmt ihre Hände und sieht sie ernst an.
„Warte, stopp, nicht so stürmisch, ich möchte in Urlaub fahren, ich muss mal raus. Verstehst du? Mal allein sein, zur Ruhe kommen.“ Völlig überrascht fragt sie, ob er sie nicht mehr liebe, eine andere Frau kennengelernt habe, oder ihn störe, weil sie viel bei ihm sei? Er blickt sie an, seine großen grünen Augen bohren sich fest in ihre.
„Eine andere Frau kennengelernt haben, ha. Wann denn, du machst Witze, dafür habe ich doch gar keine Zeit, will ich auch gar nicht. Wir sehen uns oft, und ich habe manchmal das Gefühl, du erdrückst mich mit Wünschen, häufiger auszugehen, ins Kino oder Ähnliches. Es ist mir im Moment zu viel. Ich liebe dich, Katrin, das weißt du. Wenn wir uns eine Zeit lang nicht sehen, ist es sicher nicht schlimm.“ Erstaunt hebt sie den Kopf, das muss sie erst verarbeiten, schüttelt ihren blonden Lockenkopf und sieht ihm lange und tief in die Augen. Dann streicht sie kurz über seine Wange und nickt.
„O.k., wenn du meinst, eine Pause täte uns gut, dann machen wir es.“ Kurz entschlossen nimmt sie ihre Jacke vom Sessel, schnappt ihr Buch, in dem sie gelesen hatte, küsst ihn flüchtig auf den Mund und fort ist sie. Mit diesem schnellen Abgang hat er nicht gerechnet. Irritiert blickt er ihr durchs Fenster nach, wie sie auf ihrem Fahrrad davonradelt und überlegt einen Moment ihr nachzufahren, tut es aber nicht. Ich habe sie verschreckt, hat sie mich überhaupt richtig verstanden? Er geht die Szene noch mal durch. Ja, es war richtig, ich musste das sagen; dennoch möchte er mit jemanden darüber sprechen. Da fällt ihm Jens, sein bester Schulfreund ein, er ruft an. Leider springt die Mailbox an. Schade. Sein Blick geht rüber zum Elternhaus, es liegt nicht weit entfernt in der Sackgasse: Im Wohnzimmer brennt Licht, seine Mutter ist noch auf. Mit ihr will er reden, sie kennt Katrin gut. Sein Vater ist beruflich oft fort und auch heute nicht da. Seine „Mam“ kann wunderbar zuhören und gab ihm schon so manchen guten Tipp. Sie war es, die vorschlug, er solle eine eigene Wohnung beziehen. Das war vor einem Jahr. Jetzt ist er zweiundzwanzig. Die Eltern zahlen die Miete und unterstützen ihn auch sonst finanziell großzügig. Mit Katrin zusammen richtete er diese kleine Zweizimmerwohnung gemütlich mit hellen Holzmöbeln ein, fühlt sich hier wohl und die geringe Entfernung ist ideal für spontane Besuche. Er geht hinüber und klingelt. Die Mutter öffnet und erkennt sofort, dass er Redebedarf hat.
„Komm rein, wo drückt der Schuh?“
„Hast du Zeit?“ Lennart setzt sich in den bequemen Lehnsessel, der schon immer sein Lieblingsplatz war und fängt an zu erzählen. Geduldig hört seine Mam zu und meint dann:
„Ihr seid oft zusammen, sie ist viel um dich, verstehe. Als ich damals studierte, habe ich für mich auch Zeit herausholen müssen. Man muss mal allein sein, das ist wichtig. Fahr doch an die See, dort kannst du nachdenken und der Kopf wird frei, auch für neue Ideen. Hast du genügend Geld?“
„Ja, ich hab’ einiges zurückgelegt. Danke fürs Zuhören, Mam, du hast mir sehr geholfen.“ Erleichtert plant er den Urlaub. Ein Anruf bei der Uni, er kann die Hausarbeit später nachholen. Die Kollegen aus dem Planungsbüro sind sehr überrascht, wünschen ihm jedoch gute Erholung, und, er möge aber wiederkommen. Alle schätzen seine zugängliche Art und seinen Fleiß. Von Katrin verabschiedet er sich nur telefonisch. Nachdem er es geschafft hat, ein Zimmer in der Hochsaison zu bekommen, ist er Tage später auf seiner Lieblingsinsel in der Nordsee. Hier verbrachte er mit seinem Bruder Oliver und den Eltern wunderschöne Urlaube. Er steigt aus dem Auto – ein Geschenk der Eltern zum Abitur – reckt sich und atmet tief die Nordseeluft ein. Endlich Freizeit, endlich abschalten, und er fährt weiter zum Hotel. In den nächsten Tagen geht er stundenlang am Strand spazieren und spürt, wie die Unruhe etwas abnimmt. Der Blick aufs Wasser, der weite Horizont, die klare, warme Luft, all das tut sehr gut. Oft steht er nur da, lauscht dem Rauschen des Meeres und betrachtet die silbrig glänzenden Wellen, die flink über den festen Sand laufen und im Nu im nassen Grau verschwunden sind. Während er so guckt, fällt ihm auf, dass er bisher nicht an Katrin gedacht, oder sie gar vermisst hat. Ist das jetzt ein gutes oder schlechtes Zeichen? Er will es nicht überbewerten, ihm geht’s gut, ihm mangelt es nur an Zeit, Zeit mit Katrin auszugehen, oder ein schönes Bild zu malen, ein Buch zu lesen, mit Oliver zu reden, ihm zuzuhören, wenn er zu Hause im Keller übt. Er spielt wirklich gut Schlagzeug, hat Talent, wie Paps immer sagt. Die Gedanken gehen zu seinem Paps, er liebt ihn sehr, leider ist er selten zu Hause. Mit ihm zu reden ist schön, er weiß viel, war fast überall auf der Welt. Im Problemelösen ist er super, muss er auch als Ingenieur und Architekt. Und Oliver? Er ist meist gut drauf, bringt ihn oft zum Lachen, meint, ich sei zu ernst, denke zu viel. Ja, ich bin manchmal herb, nachdenklich, finde nicht jeden Witz lustig, obwohl ich nicht humorlos bin. Warum ist das so? Keine Ahnung. Oliver ist anders, nimmt alles leicht. Ich dagegen fühle mich oft wie in einer zu engen oder fremden Haut. Er geht weiter, will über eine Lösung nachdenken: Mehr Zeit für sich zu haben, einen Abend, vielleicht noch einen Nachmittag, das wäre toll! Wird Katrin das verstehen, ohne gekränkt oder gar beleidigt zu sein? Sie muss es verstehen. Gibt es noch andere Optionen? Das Mobiltelefon hat er die ersten Tage bewusst ausgeschaltet. Nun ist er doch neugierig, und guckt nach. Katrin hat sich nicht gemeldet, aber Jens fragte:
„Was wolltest du?“
Er schreibt zurück:
„Danke, hat sich erledigt.“
Noch fehlt die Lust zum Malen oder zum Lesen, viel lieber läuft er barfuß herum und genießt den feinen warmen Sand, der durch die Zehen quillt, das seichte Wasser, das die Füße umspielt. Der Blick geht wieder und wieder aufs Meer, mit den faszinierenden Farben, die Sonnenlicht und Wolken ständig verändern. Mal ist das Wasser hellgrau, dann dunkelgrün, oder schimmert silbrig blau. Selbst dunkelgrau hat viele Facetten, bis hin zu schwarz. Ich könnte es malen, habe ich noch nie versucht. Aber erst will er schwimmen. Er liebt die See, das Wasser ist kühl, doch das macht ihm nichts aus. Viele Urlauber haben die gleiche Idee, es ist voll. Als guter Schwimmer traut er sich weit hinaus. Es ist herrlich und ein prächtiges Gefühl durch die Wellen zu gleiten, er genießt es. Erfrischt joggt er danach noch eine halbe Stunde. Während er läuft, denkt er an Katrin. Er vermisst sie. Was sie wohl macht? Ihr ist sicher langweilig. Vor einigen Tagen schliefen wir miteinander, es war intensiv und wunderschön wie lange nicht. Wir kuschelten noch lange danach. Ist das nur Leidenschaft oder wirklich Liebe? Oder nur tiefe Zuneigung? Zweifel, warum hab’ ich Zweifel? Liebe ich sie nicht so stark wie ich immer glaube? Olli hat wohl recht, vielleicht denke ich wirklich zu viel, aber ich brauche Klarheit. Wenn ich zu Hause bin, müssen wir über alles reden. Seit sechs Jahren sind sie zusammen, lernten sich auf dem Gymnasium kennen, als Katrin neu in seine Klasse kam. Ein schüchternes, großes, hübsches Mädchen mit kurzen blonden Locken und wunderschönen blauen Augen. Beide waren sechzehn. Alle Jungen fanden sie toll, er natürlich auch. Sie hatten den gleichen Heimweg, und schnell funkte es zwischen ihnen. Er besuchte sie oft zu Hause, gemeinsam arbeiteten sie an den Hausaufgaben. Katrins Mutter mag ihn, freute sich immer, wenn er kam, das spürte er gleich. Plötzlich ist die Lust zum Malen wieder da, die Utensilien hat er immer dabei und fängt gleich an, die Dünen mit den langen Gräsern zu malen. Könnte ein gutes Bild werden. Niemand, außer ihm malt in der Familie, seine Mam studierte Musik, ist eine sehr gute Pianistin, tritt nicht mehr öffentlich auf, gibt aber Klavierunterricht. Gerne hört er ihr zu. Oliver liebt auch Musik, aber auch Sport und seine Vespa. Als Architekt kann sein Vater natürlich zeichnen und entwerfen, aber malen ist nur sein Hobby. Lennart liebt Farben und bringt sie mit guten Ideen und viel Fantasie aufs Papier. Seine Mam steht oft bei ihm, betrachtet ihn intensiv beim Malen. Er spürt es und fragt dann:
„Warum guckst du mich so genau an?“
„Ach, nur so, ich schau dir halt gern zu“, meint sie und geht nachdenklich weg. Während er sich jetzt für ein dunkles Graugrün entscheidet, schweifen die Gedanken wieder ab. Er erinnert sich an eine Autofahrt mit dem Vater. Es war in Lissabon auf der neuen Brücke über den Tejo. Den Vater für sich allein zu haben war schon ein Genuss, dazu diese tolle Fahrt! Er lag fast auf dem Beifahrersitz und genoss den Blick auf die hohen Stahlstreben, die matt glänzend von der Sonne vorbeiflitzten. Damals, mit elf Jahren, meinte er begeistert:
„Ich möchte später auch so schöne, große Brücken bauen.“
„Warum nicht, Junge“, lächelte der Vater aufmunternd. Stundenlang hätte er so mit seinem Paps weiterfahren können. Es war wundervoll. Vielleicht hatte sich damals schon sein Berufswunsch verfestigt, Ingenieur oder Architekt zu werden.
An einem Tag ist es besonders warm, Lennart läuft wieder barfuß in den Dünen und lässt sich in den weichen Sand fallen. Angenehm dringt die Wärme durch die Kleidung. Die Arme hinter dem Kopf, schaut er hinauf in den mit Wolken bestückten Sommerhimmel. Lange her, seit er so dalag und den Himmel betrachtete. Leichter Wind verändert die Wolkenumrisse, löst sie auf und lässt neue Formen entstehen. Immer wieder ein anderes Bild. Er rät, was es darstellen soll, wie damals, vor vielen Jahren, als Oliver und er im elterlichen Garten lagen und den Himmel betrachteten. Er muss lächeln. Sie wetteiferten, ob ein Tier, eine Gestalt oder Gesicht zu erkennen sei. Ihre Fantasie kannte keine Grenzen. Lustig war’s. Es ist eine Kuh, nein, ein Hund. So ging es hin und her, machte viel Spaß und sie lachten und lachten, kugelten dabei über den Rasen, wie zwei vom Wind getriebene Wollknäuel. Während er weiter hochschaut und meint, das Wolkengebilde könne ein Flugzeug sein, hat sich die Form erneut verändert. Und da ist sie plötzlich, die rettende Idee: Ändern! Verändern! Ich muss was verändern! Er setzt sich, kramt das Notizbuch aus dem Rucksack und schreibt Stichworte auf. Inzwischen ist es noch wärmer geworden. Er steht auf, schüttelt den feinen Sand ab und geht ins nächste Café. Und wenn Katrin nicht damit einverstanden ist? Ich muss es trotzdem tun. Bei einem leckeren Eiskaffee macht er weitere Notizen und weiß nun genau, was er nach dem Urlaub erledigen will. Seine Probleme haben sich im Nu in den Wolken in Luft aufgelöst. Er hat noch Appetit und bestellt bei der hübschen Kellnerin einen großen Eisbecher und zeigt ihr sein schönstes Lächeln. Hingerissen von diesem gutaussehenden jungen Mann, lächelt sie zurück. Wie einfach doch schwierige Knoten aufgehen können, denkt er und genießt das Eis. Ich musste nur nach oben schauen, da war die Lösung! Nach oben heißt auch, nach vorne gucken, das mache ich. Er bezahlt und gibt ein großzügiges Trinkgeld. Gut gelaunt geht er zum Hotel, nimmt das angefangene Buch mit auf die Terrasse und liest es bis zum Ende. Zwei Tage Erholung bleiben ihm noch, die will er voll genießen.



2. Kapitel

Die ersten Abende ohne Lennart sind schrecklich langweilig. Katrin vermisst ihn sehr, schreibt ihm kurze Nachrichten und löscht sie dann wieder. Ausgehen möchte sie, Spaß haben. Kurz entschlossen ruft sie ihre Freundin Liz an, die sich über den Anruf sehr freut.
„Hallo, Kati, hast dich lange nicht gemeldet. Gute Idee, auszugehen! Ich hab’ heute nichts Besonderes vor. Wann soll ich dich abholen, oder hast du inzwischen ein eigenes Auto?“
„Sehr lustig, weißt doch, dass ich keins hab’s. Um 19.00 Uhr bin ich fertig.“ Sie setzen sich in ein Café und reden und reden. Katrin erzählt von Lennarts plötzlichem Urlaubswunsch, dass er unbedingt allein fahren wollte, Ruhe brauche und sie es nicht verstünde. Fragend blickt sie Liz an, denn sie kennt Lennart gut. Die Freundin wiegt den Kopf und meint:
„Nun, wenn du oft bei ihm bist, dazu dein Temperament, deine Ansprüche“, sie schaut sie kurz an und fährt fort, „wie soll er dabei sein Studium schaffen?“ Katrin will protestieren.
„Du wolltest meine Meinung hören, Kati. Komm, lass uns in die kleine Tanzbar gehen, da kannst du dich abreagieren“, und legt beruhigend die Hand auf ihren Arm. Sie gehen in die Bar, wo sie ausgelassen tanzen. Sie haben Spaß und fangen bewundernde Blicke auf. Als Liz sie später nach Hause bringt, fühlt Katrin sich prächtig. Warum kann das nicht immer so sein, denkt sie. Ich bin sonst zufrieden, möchte nur gern häufiger ausgehen. Ihre Ausbildung zur Krankenschwester gefällt ihr, sie hat nette Kollegen, der Beruf stresst sie keineswegs, anderen Menschen zu helfen liegt ihr. Noch lieber ginge sie aber auf die Schauspielschule, denn Schauspielerin ist ihr Traumberuf. Sie lebt mit ihrer Mutter allein, und für diese Ausbildung reicht das Geld leider nicht. Ihr Vater hat die Familie verlassen als sie neun Jahre alt war und zahlt nur einen geringen Unterhalt. Er fehlt ihr noch immer, sie sieht ihn sehr selten. Alleinsein ist ein Problem für Katrin. Liz hat am nächsten Tag keine Zeit, doch Katrin möchte nicht zu Hause bleiben, es treibt sie hinaus, sie will sich amüsieren. Sie nimmt den Bus in die Innenstadt. Dort angekommen überlegt sie, ob sie in ein Café gehen soll, als sie plötzlich angesprochen wird.
„Katrin, bist du das?“ Erstaunt sieht sie in Olivers Gesicht, Lennarts hübscher Bruder steht neben ihr, strahlt sie an.
„Wie du siehst bin ich’s, was machst du denn hier?“
„Dasselbe kann ich dich fragen. Ich will ins Kino, es gibt einen tollen Film, hast du Lust? Ich lade dich ein“, bittend guckt Oliver sie an, „komm doch mit!“ Sie zögert, hat nichts Bestimmtes vor und sagt deshalb zu. Stolz hakt er sich bei ihr ein, sie schlendern davon. Nach dem Kino will er wissen:
„Hat dir der Film gefallen?“
„Ja, er war wirklich gut gemacht“, sagt Katrin, „gestört hat mich nur dein Arm auf meiner Schulter. Ganz schön frech von dir.“
„Ich wollte dich nur beschützen“, meint er lässig, „Als Entschuldigung biete ich dir an, in der Bar drüben mit mir was zu trinken. Bitte, Katrin, sag nicht Nein. Du bist immer mit Lenn zusammen, ich möchte es genießen, dich mal allein zu haben.“ Er lächelt sie so treuherzig an, dass sie nicht Nein sagen kann. Sie verbringen einen lustigen und schönen Abend, reden und lachen viel. Die Stunden vergehen, plötzlich ist es Mitternacht.
„Oh, jetzt ist der letzte Bus weg“, meint sie angeheitert, als sie auf die Uhr schaut. Es blieb nicht bei einem Drink, „Wie komm’ ich nun nach Hause?“
„Ich fahre dich natürlich“, schmeichelt Oliver, „meine Vespa steht um die Ecke.“
Zu Hause angekommen, nimmt er sie plötzlich in den Arm, drückt sie und küsst sie heftig. Überrumpelt und leicht benommen, erwidert sie den Kuss. Dann reißt sie sich los. Was mache ich da? Schnell wünscht sie ihm „gute Nacht“ und stürzt ins Haus.
Seit zwei Wochen ist Lennart verreist, und noch immer ist sie sauer auf ihn, deshalb lehnt sie Olivers Einladung zum Tanzen nicht ab. Was ist schon dabei, sie freut sich auf den Abend. Die Tanzfläche ist voll, es ist heiß und Katrin liebt es, wild und schnell zu tanzen. Pure Lebensfreude strahlt ihr Gesicht aus, sie genießt diese Stunden in vollen Zügen. Oliver bewundert die Freundin des Bruders, deren blonde Locken bei jeder Bewegung hin und her fliegen und ist stolz mit ihr hier zu sein, obwohl er weiß, dass sie Lennart liebt. Doch heute hat er sie für sich. Schon lange schwärmt er für sie und beneidet den älteren Bruder. Nur diesen Abend mit ihr verbringen. Einmal möchte er mit ihr …, ob sie das auch will? Ihm schwirrt der Kopf, in zwei Tagen kommt Lennart zurück.
„Wo bist du mit deinen Gedanken?“ Katrin fasst ihn am Arm und küsst ihn auf die Wange, leicht und beschwingt fühlt sie sich.
„Nur bei dir, wollen wir bald heimfahren? Ich werde müde, darf ja nichts trinken.“
„O.k., fahren wir, bei mir können wir noch einen Gute-Nacht-Drink nehmen, meine Mutter ist heute bei ihrer Freundin und kommt spät zurück.“ Das hört sich gut an, denkt Oliver. Sie schmiegt sich an ihn während der Heimfahrt. In ihrem Zimmer sitzen sie nebeneinander und trinken Wein. Als Oliver sie an sich zieht, wehrt sie sich nicht, im Gegenteil, sie genießt es begehrt zu werden. Seine Küsse machen sie schwindelig, sie erwidert sie, und dann passiert es: Sie schlafen miteinander. Oliver, jünger als sie, zeigt, dass er ein guter Liebhaber ist. Voller Leidenschaft gibt sie sich ihm hin. Am nächsten Tag hat sie frei. Sie schläft lange und rekelt sich genüsslich als ihre Mutter nach kurzem Klopfen in ihr Zimmer kommt.
„Na, dir geht es wohl sehr gut?“
„Ja, Mutsch, richtig prima.“
„Gehst du heute wieder aus?“, fragt sie vorwurfsvoll. Sie mag Lennart, das häufige Ausgehen der Tochter behagt ihr gar nicht.
„Nein, ich bleibe heut’ zu Haus, muss noch einiges lesen über die Klinik für die Schule.“
„Frühstücken wir zusammen?“
„Ja, und bitte einen ganz starken Kaffee, Mutsch. Ich komme gleich.“ Sie reckt sich und steht auf.



3. Kapitel

Gut gelaunt ist Lennart wieder zurück, die Eltern hat er schon begrüßt und will gleich zu Katrin fahren, als Oliver plötzlich blass und verlegen mit schlechtem Gewissen in der Tür steht.
„Grüß’ dich Lenn, gut siehst du aus“, sagt er und geht langsam auf ihn zu, „hast du ein paar Minuten für mich? Ich muss dir unbedingt was sagen?“, und fängt kleinlaut an zu sprechen. Er erzählt vom Flirt mit Katrin, dass sie aus waren und später miteinander geschlafen hätten.
„Was?“ Fassungslos schüttelt Lennart den Kopf.
„Das sagst du mir so ins Gesicht? Du hast das schamlos ausgenutzt, mochtest sie ja schon immer. Du bist mein Bruder! Mensch Olli!“ Wütend geht er auf ihn zu, gibt ihm eine Ohrfeige und schubst ihn gegen die Tür. Oliver fängt sich, reibt die Wange und will weitersprechen, doch er kommt nicht dazu. Lennart packt ihn, schüttelt ihn und lässt ihn abrupt wieder los. Der Bruder kommt ins Stolpern, fängt sich aber wieder. Diese heftige Reaktion hat er nicht erwartet, so kennt er ihn nicht.
„Tut mir leid, ich war ein Idiot, hab’ nur an mich gedacht, entschuldige bitte.“ Er lässt den Kopf hängen.
„Verzeihst du mir?“
Lennart guckt böse und zischt:
„Die Entschuldigung nehme ich an, zum Verführen gehören immer zwei, doch verzeihen, nein!“ Dankbar streckt ihm Oliver die Hand entgegen und schleicht erleichtert aus der Wohnung. Lennart beachtet ihn nicht, schnappt sich sein Fahrrad und fährt aufgebracht und schnell zur Freundin. Die Mutter, ahnungslos, hat ihn kommen sehen und öffnet ihm freundlich die Haustür.
„Schön, dich zu sehen Lennart, Katrin ist oben.“
„Danke, Frau Benning.“ Mit flotten Schritten geht er die Treppe rauf, klopft an die Tür und ist auch schon drin.
„Nicht so stürmisch, Lenn, hier bin ich“, Katrin kommt aus dem Bad und geht erfreut auf ihn zu.
„Dein Lenn kannst du dir sparen.“
„Was ist denn los?“
„Was los ist, weißt du wohl am besten. Ich habe gerade mit Oli gesprochen.“
„Oh“, Katrin lässt die Arme sinken, „ich muss dir auch was sagen. Setz dich doch erst mal, du bist so aufgeregt, so kenne ich dich gar nicht.“
„Ich mich auch nicht“, stößt er hervor, „wir müssen reden.“ Zögernd erzählt Katrin, dass sie sich einsam fühlte, tanzen gehen wollte, niemand Zeit hatte und Oliver sich anbot. Dann sei es leider passiert, sie hätten miteinander geschlafen.
„So schnell geht das bei dir? Wie oft habt ihr …?“
„Ein Mal“, murmelte sie leise, „ich schäme mich so. Es tut mir leid.“
„Zwei Wochen bin ich weg und dann so was …“
„Tschuldigung, ich hab’ alles kaputt gemacht. Kannst du mir verzeihen?“
„Nein, kann ich nicht.“ Lennart will sich beruhigen, steckt die Hände in die Hosentaschen, ballt sie zusammen und löst sie langsam. Enttäuscht und wütend schweigt er, die Augen blicken zu Katrins Bett. Ob sie hier…? Er schluckt, fasst sich wieder und spricht weiter.
„Im Urlaub habe ich viel nachgedacht, auch über uns. Ich fühle mich eingeengt, brauche Freiraum, muss mal allein sein, ab und zu Freunde treffen, wie du deine Freundinnen auch siehst. Nun passiert das! Ich wollte auch unsere Beziehung testen …“, höhnisches Lachen unterbricht den Redefluss, „ist ja gelungen, und wie!“ Er setzt sich auf den nächsten Sessel. Katrin guckt ihn vorsichtig an, sagt aber nichts. Den Kopf gesenkt redet er weiter.
„Ich habe vor – auch eine Idee aus dem Urlaub – mein Studium woanders weiterzuführen. Welche Stadt, weiß ich noch nicht genau. Vielleicht Bochum oder Köln, wollte ich schon immer mal hin. Ich muss weg von zu Hause, was anderes sehen. Jetzt sowieso! Schon zwei Wochen haben gezeigt, dass du … Ich muss das erst begreifen, verarbeiten, du hast mich schwer enttäuscht. Ich hab’ dir vertraut! Das Vertrauen ist futsch! Ein Jahr Trennung würde uns guttun, dann sehen wir weiter.“

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