Das Leben des Matthias Loïc

Das Leben des Matthias Loïc

António de Sousa


EUR 27,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 370
ISBN: 978-3-99130-344-2
Erscheinungsdatum: 08.01.2024
Aufgewachsen ohne Vater, begibt sich Matthias Loïc auf Spurensuche in seine Vergangenheit und Familiengeschichte. Dies führt ihn in unterschiedliche Länder und Kulturen wie Portugal, Kongo, Schottland, wo er seinem Interesse für Geschichte(n) nachgehen kann.
1. Die Ursprünge

Mein Vater starb an dem Tag, an dem ich geboren wurde. So hat meine Mutter es mir erzählt. Er starb bei einem Autounfall, als er auf dem Weg zur Entbindungsklinik war, um uns zu besuchen. Gerade aus dem Ausland auf dem Flughafen Hannover eingetroffen und auf die Autobahn A 7 gefahren, die Hannover mit Hamburg verbindet, war er in diesen Unfall verwickelt worden.

Heute feiere ich meine siebenundzwanzig Jahre. Gerade war ich auf dem Friedhof in Bergen, um das Grab meines Vaters zu besuchen. Einige Jahre später wurden auch meine Großeltern mütterlicherseits hier begraben. Der Ort ist nicht so düster wie viele der Friedhöfe, die wir in anderen Ländern im Vorbeifahren von Weitem sehen.

Die kleine Kapelle am Eingang wurde mit kleinen roten Ziegeln gebaut, die ihren Bögen und Fenstern exakte geometrische Formen verleihen und die schöne blassrote Farbe des Ziegels beibehalten, die uns an mittelalterliche Kirchen erinnert.

Die Hauptzufahrt besteht aus grauen Pflastersteinen, die sich harmonisch in geraden Formen kreuzen. Die leuchtenden Blumen, die zwischen den Gräbern und entlang der verschiedenen Wege gepflanzt wurden, lassen den Ort friedlich, schön und einladend wirken.

Einige der Wege sind mit gepflegtem Gras gesäumt, ebenso wie die Büsche um sie herum, die so sorgfältig getrimmt sind, dass nicht ein einziger Zweig, ein einziges Blatt die Höhe eines anderen überragt. Die großen und wunderschönen Bäume verschiedener Arten, die zwischen den Gräbern gepflanzt sind, spenden uns vor allem an sonnigen und heißen Sommertagen außerordentlich viel Schatten.

Die Bäume sehen im Herbst genauso feierlich aus wie im Winter, aber dann sie sind anders gekleidet. Unter ihnen stehen die dunkelgrün gestrichenen Gartenbänke und laden zum Lesen, Meditieren oder Ausruhen ein und fügen sich im Frühling und Sommer in das grüne und blumige Dekor ein.

Der Ort, verschönert durch die Blumen, Sträucher, Rasen, Bäume, der Duft der verschiedenen noblen Blumen, der Gesang der Vögel lassen uns vergessen, an welchem Ort wir sind. Wir fühlen uns, als würden wir spazieren gehen oder lesen und irgendwo in einem schönen öffentlichen Garten sitzen.

Letztes Jahr bin ich mit dem Zug nach Portugal, nach Lissabon, gefahren. Anschließend habe ich die kleine Stadt Sertã besucht, in der meine Großmutter väterlicherseits geboren wurde. In dieser Stadt hatte mein Vater bei seinen Großeltern gelebt, seine Schulausbildung absolviert und das Technische Institut besucht. Es gab immer noch ein paar Freunde aus seiner Schulzeit, vom Fußball. Sie erzählten mir von den Abenteuern, die sie zusammen erlebt hatten, und sagten mir, ich sähe aus wie er. Aber wenn ich ihn mir auf Fotos genau ansehe, kann ich diese Ähnlichkeit nicht feststellen, obwohl meine Mutter sie auch hin und wieder erwähnt.

Als ich in Begleitung eines Onkels meines Vaters auf den dortigen Friedhof ging, um einige Gräber verstorbener Verwandter zu besuchen und mir so ein Bild oder eine Verbindung zur Vergangenheit zu verschaffen, insbesondere durch den Besuch des Grabes desjenigen, dessen Namen ich trage, und bei dieser Gelegenheit auch das Mausoleum des anderen Urgroßvaters besuchte, stellte ich fest, dass dieser Friedhof nichts mit dem schönen Park des Friedhofs in Bergen gemein hatte, auf dem mein Vater begraben wurde. Hier, wie auf allen Friedhöfen Südeuropas, ist die charakteristische Kälte des Todes deutlich spürbar.

Das blasse Weiß des Marmors, der fast alle Gräber und Mausoleen bedeckt, erinnert auf eine makabre Weise an unser gemeinsames Schicksal. Der Mangel an natürlichen Blumen auf den Gräbern, die, wenn sie da sind, meistens aus Plastik bestehen, um die Abstände zwischen den Besuchen der Verstorbenen zu vergrößern, macht den Ort morbide.

Nur die Hecken und Sträucher, die die Wege zwischen den Gräbern säumen, sowie die großen Zypressen mit ihren scharfen Spitzen verleihen dem Ort ein wenig Natürlichkeit. Einen leichten Kontrast zu diesem Dekor bildet das Elfenbeinweiß des Marmors. Selbst die Privilegierten in ihren Mausoleen können sich nicht der Regel entziehen, die ihnen durch die Einheitlichkeit des Steins vorgegeben ist.

Zypressen sieht man in dieser Gegend nur selten an einem anderen Ort. Man sieht sie meistens nur, wenn man einen Friedhof besucht. Von der Straße aus sichtbar, auf einer Anhöhe gelegen und von weißen, mit Branntkalk gestrichenen Mauern umgeben, weisen sie auf das Vorhandensein eines Friedhofs hin. Als wären es Bäume, die den Tod ankündigen. Anders ist es in Italien, wo sie an Straßenrändern und in der Umgebung der Ortschaften zu finden sind.

Der Körper meines Vaters wurde in die Erde gelegt. Auf dem Friedhof von Bergen gibt es keine Mausoleen. Reiche und Arme werden in die Erde zurückgebracht. Auf riesigen unförmigen Granitsteinen, fast im Rohzustand, sind zwischen den schönen Naturblumen die Namen der Verstorbenen sowie ihre Geburts- und Sterbedaten zu lesen. Kaum jemand hat sein Foto auf dem Stein, um die Neugier der Passanten zu befriedigen und ihnen zu zeigen, wie er oder sie zu Lebzeiten aussah.

Falls doch, wird in diesem Fall immer das schönste Foto ausgewählt, um an den Verstorbenen zu erinnern. Ein Erscheinungsbild, das meist nicht dem seiner letzten Tage entspricht. Auf dem Friedhof von Bergen sind Fotos nur selten oder gar nicht vorhanden. Familien halten oft die Erinnerung an ihre Angehörigen anders wach.

Leider bleibt uns immer das letzte Bild, das wir von einer Person haben, in Erinnerung, und das ist nicht immer das auf dem Grab. Es gibt einige Grabsteine, auf denen nicht einmal die beiden Jahreszahlen eingemeißelt sind. Auf dem Granitstein meines Vaters steht, dass er am 28. Juli 1993 starb.

Das Schicksal hält solche Überraschungen für uns bereit. Es schenkte mir an diesem Tag das Leben und nahm seines am selben Tag mit, an einen Ort, den niemand kennt. Es hat uns einfach sein Andenken hinterlassen, damit wir uns an ihn erinnern, durch seinen Namen und die wichtigsten Daten seines Lebens, die sichtbar auf diesem Grabstein mit seinen glitzernden rostfarbenen Kristallen eingraviert sind. Um sie herum lächeln uns Büsche in verschiedenen Grüntönen und mit unterschiedlichen Blumenarten an. Die Zuneigung und Liebe, die ich mit der Erinnerung an meinen Vater empfinde, wird durch dieses Datum, das uns verbindet, weitergegeben. Es markiert den Beginn meines Lebens und das Ende seines Lebens.

Es waren meine Geschwister, Carolina und Carlos, die meine Mutter in dem Leiden um den Tod meines Vaters begleiteten. Der Schmerz meiner Mutter ist immer noch gegenwärtig, wenn sie von ihren Erinnerungen an ihr gemeinsames Leben erzählt. Es vergeht kaum ein Tag, an dem sie nicht von ihm spricht. Ich kann die Gegenwart meines Vaters in ihren melancholischen Augen sehen. Als ich ein junger Student war und für einen kurzen Aufenthalt von der Universität nach Hause kam, gab es Nächte, in denen ich so manche Seufzer und ein verhaltenes Weinen aus ihrem Zimmer hörte.

Die Einzigen, die nicht unter dem Tod meines Vaters gelitten haben, waren meine Schwester Andrea und natürlich ich. Andrea war fast ein Jahr alt, als er starb. Meine Schwester Carolina und mein Bruder Carlos waren zwölf und zehn Jahre alt. Meine Mutter wurde sehr jung, im Alter von zweiunddreißig Jahren, Witwe.

Sie hat nie wieder geheiratet. Vielleicht, weil sie nicht noch jemanden in unser Leben bringen wollte. Oder weil sie trotz ihrer vielen Auslandsaufenthalte, und selbst als sie noch bei uns wohnte, nicht den Richtigen gefunden hat. Bei einer Gelegenheit sahen wir sie in galanter Gesellschaft. Ein alter Bekannter aus ihrer Teenagerzeit. Als mein Vater starb, arbeitete sie als Krankenschwester in der amerikanischen Botschaft in Kongo-Kinshasa.

Nach dem Tod meines Vaters hatte sie weiter für die Amerikaner gearbeitet, indem sie abwechselnd für Kollegen in verschiedenen diplomatischen Vertretungen einsprang, die ihren Urlaub verbrachten. Sie arbeitete einige Monate lang im Irak, in Afghanistan, Jordanien, Südafrika, der Türkei und Thailand. Sie hatte kürzere Aufenthalte in Japan und in afrikanischen Ländern. Mehrere Male war sie im Kongo, um Kollegen zu vertreten.

In den letzten fünfundzwanzig Jahren hat sie ihre Zeit zwischen Deutschland und diesen Ländern aufgeteilt, wobei sie nie länger als zwei Monate von uns weg war und dies zwei- bis dreimal im Jahr.

Während ihrer Abwesenheiten in unserer Kindheit lebten wir bei Hilde und Ruben, unseren Großeltern mütterlicherseits. Jahre später wurde meine ältere Schwester in ein Internat in Kassel aufgenommen und mein Bruder ging in eine andere Schule in Freiburg.

Andrea und ich sind in Bergen in die Grundschule gegangen. Dann ging sie auf das Christian-Gymnasium in Hermannsburg und ich auf das Gymnasium in Celle. Zwei Orte in der Nähe von Bergen und Wietzendorf, wo meine Großeltern lebten. Celle ist unsere Kreisstadt. Wir sind jeden Morgen mit dem Bus dorthin gefahren und am Nachmittag zurück nach Hause.

Meine Mutter erzählte mir, dass mein Vater im Kongo geboren war und vier Brüder und Schwestern hatte. Einer der Brüder ist Arzt und als Einziger der Geschwister in Portugal. Mein Großvater väterlicherseits wurde ebenfalls in diesem Land geboren. Sein Vater, mein Urgroßvater, der nach seinem Tod in dem Marmormausoleum beigesetzt wurde, das ich letztes Jahr in Portugal besuchte, ging im Alter von sechzehn Jahren nach Afrika, um bei einem Onkel zu arbeiten.

Dort heiratete er eine Afrikanerin. Ich hatte also eine afrikanische Urgroßmutter. Das hat meine Mutter mir erzählt und war amüsiert über meine Überraschung. Die Mischung meiner Gene sei ein Vorteil für meinen Organismus, abgesehen davon, dass ich kulturell interessant sei, ein Weltbürger, so ihr Fazit.

Sie sagte es mir und reagierte mit diesem leichten Lachen, das nur sie konnte und leider so selten zeigte. Sie sagte mir, ebenfalls amüsiert, dass ich, wenn ich eines Tages eine Europäerin heiraten würde, auf ihr Wort vertrauen müsste, wenn ich zufällig bemerken würde, dass unser Kind eine etwas dunklere Haut hätte, wie jemand, der gerade aus dem Urlaub in Palma de Mallorca gekommen wäre.

Auf eine dieser kurzen Reisen in den Kongo während unserer großen Ferien hatte meine Mutter Andrea und mich mitgenommen. Wie die Hitze und die stickige Luft uns den Atem nahmen, als wir aus dem Flugzeug stiegen, obwohl wir erst am Abend ankamen, hat mich sehr beeindruckt.

Am nächsten Morgen waren wir geblendet vom intensiven Sonnenlicht, von den prachtvollen und vielfältigen Farben, die durch diese Strahlen zu leuchten begannen, und umgeben von den Gerüchen, die ganz anders waren als die der Kiefern und Tannen, die die kalten Brisen in Europa um unsere Nasen wehten.

Hier sind die verschiedenen Aromen eher würzig. Anders auch die ungeheure Bewegung von Hunderten von Menschen, die zu Fuß unterwegs sind, die die mit Autos überquellenden Alleen überqueren, in die überfüllten Taxis mit gelben Farben, die ständig hupen, steigen oder auf Motorradtaxis, all diese Bewegungen und Farben der Kleidung der Passanten, die von der Sonne zum Leben erweckt werden und gute Laune und Freude bringen, zwischen fröhlich ausgetauschten Gesprächen, als ob sie von allen Passanten gehört werden sollten, als ob sich alle kennen würden.

Carolina und Carlos wurden ebenfalls im Kongo geboren. Dort hatten sie ihre Vorschulzeit verbracht. Sie waren zurückgekehrt, um bei unserer Mutter in Deutschland zu leben. Sie wollte sie bis zum Ende ihrer Grundschulzeit begleiten und hatte darauf gewartet, dass sie in die Internate privater weiterführender Schulen aufgenommen wurden. In der Zwischenzeit besuchte sie mein Vater alle zwei Monate für ein paar Tage.

Mein kürzlich abgeschlossenes Geschichtsstudium an der Universität Tübingen, das historische Fächer zu den Epochen Antike, Mittelalter, Neuzeit und Gegenwart umfasste, hat mich dazu veranlasst, den Wurzeln meiner Familie auf den Grund zu gehen.

Ich schaue mir gedankenverloren die Ahnengalerie zu Hause an. Das Schwarz-Weiß-Bild eines ernst schauenden Ehepaares mit vier fast erwachsenen Kindern. Ruben der Älteste.

Mein Großvater Ruben wurde 1913 in Romanowka, einem kleinen Dorf in der Ukraine, geboren. Sein Vater und seine Mutter ebenfalls. Sie waren die Nachkommen der Deutschen aus Russland. Diejenigen, die von Zarin Katharina der Großen nach Russland gerufen worden waren.

Ab Juli 1763 begannen germanische Bevölkerungsgruppen, hauptsächlich lutherische, aber auch katholische, aus dem Südwesten Deutschlands, aus Hessen, dem Rheinland, der Pfalz und dem Elsass, sich auf Einladung der russischen Kaiserin Katharina II. in der Wolgaregion um die westrussische Stadt Saratow anzusiedeln, um diese weiten und fast unbewohnten Steppengebiete zu kolonisieren.

Die Kaiserin war eine in Deutschland geborene Prinzessin namens Sophie Friederike Auguste von Anhalt-Zerbst, die in der Stadt Stettin in Pommern, einer heute polnischen Region, geboren wurde. Hervorzuheben ist, dass Polen im Laufe seiner Geschichte einen großen Teil seines Territoriums von den Russen und den Deutschen besetzt sah als Ergebnis der vielen Kriege, die geführt wurden.

Sophie Friederike Auguste hatte von ihren Eltern eine strenge, rigide, protestantische Erziehung erhalten, die durch eine französische Erziehung bei einem hugenottischen Lehrer ergänzt worden war. Hugenotten waren Protestanten, die zur Zeit der sogenannten Religionskriege im 16. Jahrhundert aus Frankreich und dem Baskenland geflohen waren, wo sie von den Katholiken verfolgt wurden. Sophies Lehrer brachte ihr die guten Sitten des französischen Adels und der Gesellschaft, aus der sie stammte, bei. Zugleich brachte er sie auf den Geschmack der französischen Literatur jener Zeit. Die Prinzessin entwickelte sich sehr bald zu einer kulturell gebildeten Person mit einer Leidenschaft für Literatur und Wissenschaft. Von ihrer Mutter an den Hof des preußischen Königs eingeführt, wurde sie bald für ihr Charisma bekannt.

Die ehrgeizige Kaiserin Elisabeth Petrowna von Russland sah in ihr die ideale Ehefrau für ihren Neffen, den künftigen Peter III. von Russland, an den sie das Reich abtreten wollte. Zudem war die junge Sophie in der Politik unerfahren. Sie stellte offenbar keine Gefahr für den russischen Thron dar. Sophie ihrerseits verstand, was auf dem Spiel stand. Sie war sich des Prestiges und der Macht, die mit ihrem zukünftigen Status als Kaiserin verbunden sein würden, durchaus bewusst. Die anfänglichen Bedenken ihrer Mutter gegen die Verbindung schob sie beiseite.

Ihr Aufstieg zur Großfürstin von Russland verlief reibungslos, da sie mit großem Pomp zur orthodoxen Kirche konvertierte. Bei dieser Gelegenheit sprach sie auf Russisch zu einem Volk, das sie zur Zufriedenheit von Kaiserin Elisabeth Petrowna in sein Herz schloss. An diesem Tag nahm sie offiziell den Namen Katharina Alexeyevna an.

Nach acht Jahren Ehe blieb Katharina immer noch kinderlos. Kaiserin Elisabeth, die selbst kinderlos war, wollte unbedingt, dass Katharina einen Erben bekam. Sie vermutete, dass ihr Neffe aufgrund einer Geschlechtskrankheit impotent war. Sie schlug Katharina vor, sich einen Geliebten zu nehmen, und empfahl ihr Graf Sergej Saltykow. So wurde der zukünftige Kaiser Paul I. geboren.

Nach einem Staatsstreich im Palast, der von ihrem Geliebten unter Mitwirkung anderer Hofbeamter verübt wurde, wurde Kaiser Peter III. wegen einer Kolik für tot erklärt. So wurde dieser Tod den westlichen Kanzleien auf jeden Fall präsentiert. Gerüchten zufolge starb er durch Strangulation unter Mitwirkung seiner Frau, der späteren Zarin Katharina II., genannt „die Große“.

Während ihrer mehr als dreißigjährigen Herrschaft entriss sie dem Osmanischen Reich durch ihre brillanten militärischen Eroberungen etwas mehr als fünfhunderttausend Quadratkilometer Territorium, das in der heutigen Ukraine liegt.

Diese neuen Gebiete wurden langsam von einer zahlenmäßig unzureichenden russischen und ukrainischen Bevölkerung besiedelt und verfügten nur über sehr wenig bebautes Land. Daraufhin veröffentlichte Katharina II. im Juli 1763 ein Manifest, in dem sie Menschen aus Westeuropa, darunter auch ihre ehemaligen deutschen Landsleute, einlud, nach Russland auszuwandern und im Gegenzug Privilegien wie Steuerbefreiung für dreißig Jahre, Abschaffung des Militärdienstes, Religionsfreiheit und die Möglichkeit, relativ unabhängig von der russischen Autorität zu leben, zu erhalten. Diese auf dem Papier attraktiven Bedingungen veranlassten Tausende von deutschen Bauern, die von der Zersplitterung ihres ererbten Landes in immer kleinere Parzellen betroffen waren, das feudale Deutschland in Richtung Russland mit seinen großen landwirtschaftlichen Flächen zu verlassen.

Die zweite Einwanderungswelle deutscher Siedler fand während der Regierungszeit von Zar Alexander I. statt. Nach seinem Sieg über die osmanischen Armeen im Jahr 1812 zwang Russland die Osmanen im Rahmen des Vertrags von Bukarest, sich aus Bessarabien, das zwischen den Flüssen Dnjestr und Prut liegt, bis zum Schwarzen Meer zurückzuziehen. Die Region war damals weitgehend von türkischsprachigen Nomadenstämmen besiedelt. Viele von ihnen flohen nach der Niederwerfung der osmanischen Truppen, die anderen wurden auf die Krim gebracht.

Das Russische Reich brauchte wieder einmal Pioniere, um die neu eroberten Gebiete zu besiedeln. Westeuropa war zu dieser Zeit durch die napoleonischen Kriege verwüstet. Die Bevölkerung war hungrig. Hinzu kam der religiöse Druck, den die Katholiken auf die protestantischen Minderheiten ausübten, insbesondere im heutigen Süddeutschland.

Diesmal kamen die meisten deutschen Siedler aus Schwaben und Preußen. Die Schwaben reisten mit behelfsmäßigen Flößen, den sogenannten Ulmer Schachteln, auf der Donau, Einwegboote, deren Planken bei der Ankunft zum Bau von Häusern oder als Brennholz wiederverwendet werden sollten. Sie erreichten das Donaudelta am Schwarzen Meer um 1816–1817. In den beiden Jahren davor waren die Preußen auf dem Landweg über Warschau gekommen.

Die Protestanten betrachteten beruflichen Erfolg als eine Belohnung Gottes für ein frommes Leben. Sie blieben auch offen für den technischen Fortschritt in den Bereichen Landwirtschaft und Handwerk. Ihre Anfänge in der ukrainischen Steppe waren jedoch alles andere als einfach. Das schwarze und fruchtbare Land benötigte viel Bewässerung. Also mussten Brunnen gegraben werden. Die aus Deutschland eingeführten Rinder mussten mit den einheimischen Rassen gekreuzt und die Tiere an die lokalen klimatischen Bedingungen angepasst werden. Es war auch notwendig, Mühlen für den Grundbedarf an Öl und Mehl zu bauen und Dachziegel herzustellen, um einen ähnlichen Lebensstandard wie in ihrem Herkunftsland zu erreichen.

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