Späte Jagd

Späte Jagd

Psychologischer Thriller

Oskar Bitter


EUR 17,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 346
ISBN: 978-3-99146-477-8
Erscheinungsdatum: 10.01.2024
Wo viel Licht, da auch viel Schatten. Die helle Welt der Pfadfinder nutzen zwei dubiose Gestalten aus, um die Gunst der Jungen zu gewinnen. Wölfling Georg Molenbrick entgeht dabei knapp einem Missbrauch. Er kann den Vorfall nicht vergessen und sinnt auf Rache.
Vorwort

Im stolzen Alter von fünfundachtzig Jahren bezieht der alleinstehende Faustus Molenbrick ein Zimmer in der Seniorenresidenz seines Heimatortes. Er ist froh darüber, dass er endlich einen Platz in Neu-Moritzhain gefunden hat.
Drei Wochen nach dem Einzug – am Gründonnerstag – bereitet die Nichte von Herrn Molenbrick zusammen mit ihrer Tochter die Räumung des verlassenen Eigenheims vor. Während der Besichtigung des Objektes stoßen sie im Obergeschoss in der Besenkammer zufällig auf eine Zugstange für die Dachbodenklappe. Ohne langes Überlegen ziehen sie die steile Ausziehleiter herunter und steigen hinauf. Sie gelangen auf einen kahlen, unbenutzt wirkenden Trockenboden. An manchen Stellen ist der Mörtel von den Dachziegeln abgebröckelt und liegt auf dem staubigen Boden herum. An dem einen Ende stehen sie vor einer gemauerten Wand, hinter der sich ein weiterer Raum befinden muss. Damit haben sie nicht gerechnet. Nach einigen Versuchen finden sie endlich den richtigen Schlüssel, der in das Vorhängeschloss der verriegelten Tür passt. Gespannt betreten sie die Mansarde.
Die Glasscheibe des runden Fensters an der Stirnseite des Dachbodens ist völlig verschmutzt. Es dringt so gut wie kein Licht hindurch. Sie tasten vergeblich nach einem Lichtschalter neben dem Türrahmen. Die Tochter zieht ihre Taschenlampe aus der Jackentasche und leuchtet in dem Raum herum. Hier wurden die Dachschrägen verkleidet. Die Wände sind mit fleckigen Raufaserbahnen tapeziert. An manchen Stellen haben sie sich vom Untergrund gelöst. Es riecht muffig und leicht verräuchert. Als Erstes entdecken sie Karl-May-Romane, mehrere Naturführer und ein uraltes Lexikon in dem Wandregal links neben der Tür. Auf der anderen Seite steht eine schmale Kommode. Jemand hat dort einen zusammengerollten schwarzen Ledergürtel mit metallener Schnalle sowie einen olivgrünen Brotbeutel abgelegt. Letzterer wird von Wanderern und Pfadfindern gern neben dem Rucksack als Umhängetasche getragen. Das haben die beiden auf ihren Ausflügen schon öfters gesehen. In den Schubfächern sind Wolldecken und Bettlaken verstaut. Übermütig lässt sich die Großnichte von Faustus Molenbrick vor dem leeren Schreibtisch unter dem Giebelfenster auf einen bequemen Lehnstuhl fallen. In dem wackelnden Lichtkegel ihrer Taschenlampe wirbelt jede Menge Staub auf. Die Mutter stolpert über das Kabel einer Stehlampe und reißt es aus der Steckdose heraus. Daraufhin leuchtet die Tochter die Wand ab, findet den Anschluss, drückt den Stecker wieder hinein und knipst den Schalter an. Sofort leuchtet es durch den leicht zerschlissenen, lindgrünen Stoffschirm hell auf. Gemeinsam mustern sie den gusseisernen Kaminofen, in dem reichlich weißgraue Asche zurückgeblieben ist. Daneben steht ein brüchiger Weidenkorb. Ein paar Holzscheite und eine Schachtel Streichhölzer liegen darin. Unter dem Bett ziehen sie einen Nachttopf hervor. Er ist leer. Kein Zweifel: Das ist keine Abstellkammer. Diesen Raum hat sich jemand eingerichtet. Allerdings muss das schon ziemlich lange zurückliegen.
Dort, wo sich das kleine Oberlicht befindet, ist der untere Teil der Dachschräge durch eine meterhohe Holzverkleidung abgetrennt. Zwei verzogene Klapptüren, die sie nur mit allergrößter Mühe quietschend und knarrend öffnen können, ermöglichen den beiden Spürnasen Einblick in den dahinterliegenden Stauraum. Anscheinend ist er nie benutzt worden. Doch dann strahlt die Taschenlampe zwei mit einer rostbraunen Masse beschmierte Gegenstände an: ein Fahrtenmesser und ein aufgeklapptes Taschenmesser. Vor Aufregung übersehen sie beinahe den zerknitterten Zettel. Die Botschaft, die er enthält, klingt gestelzt und bedrohlich zugleich:
„Du elender Frevler! Deine Schandtat schreit nach sofortiger Vergeltung. Die Klinge ist gewetzt. Die Hatz beginnt. Der Todesengel schwebt über Dir. Der unerbittliche Rächer macht sich auf den Weg.“
Die Buchstaben sind aus einer Zeitung ausgeschnitten und auf das Blatt geklebt worden. Befindet sich auf den Messern getrocknetes Blut? Der Drohbrief legt das nahe. Sie lassen alles an Ort und Stelle liegen. Gefolgt von ihrer Mutter klettert die Tochter die Leiter wieder herunter. Da oben wollen sie keine Sekunde länger bleiben.
„Diese Kammer wurde vor uns geheim gehalten. Aber warum? Was ist dort geschehen?“, fragt die schockierte Tochter. Die Mutter zuckt mit den Schultern und antwortet verunsichert: „Mit so etwas habe ich nicht gerechnet. Das passt doch überhaupt nicht zu Onkel Faustus. Was er wohl dazu sagen wird?“
Erstmal brechen sie alle weiteren Vorbereitungen zur Entrümpelung des Hauses ab und überlegen, wie sie in dieser Angelegenheit am besten weiter vorgehen. Der Onkel ist geistig noch ziemlich rege und macht insgesamt einen ausgeglichenen Eindruck. Selbst auf die Gefahr hin, dass ihm ihre Entdeckung unangenehm sein sollte, halten sie ihn diesbezüglich für belastbar. Auch wenn sich in der Dachkammer jemand Drittes mit seinem Einverständnis aufgehalten hat, muss Faustus Molenbrick noch lange nichts von den offenbar mit Bedacht in der Dachschräge versteckten Gegenständen gewusst haben.
Deshalb rufen sie ihn in der Seniorenresidenz an. Auf dem Apparat in seinem Zimmer. Weil niemand abnimmt, wählen sie die Nummer der Rezeption.
Dort erfahren sie, dass ihr Verwandter heute schwer gestürzt und dabei heftig mit dem Kopf auf einer Steinplatte aufgeschlagen ist: während seines gewohnten täglichen Rundgangs durch die Grünanlage des Wohnheims. Den habe er bei gutem Wetter immer gleich nach dem Frühstück unternommen. Vor drei Stunden sei er von einem Rettungswagen abgeholt und ins Eibenstädter Klinikum eingeliefert worden.
Sofort rufen sie dort an und werden zur Intensivstation weitergeleitet. Zu spät! Ihr Verwandter sei vor wenigen Minuten an den Folgen der schweren Verletzungen gestorben. Das Seniorenheim werde jetzt benachrichtigt. Der Stationsarzt schildert ihnen knapp die Umstände:
„Das ist alles so plötzlich geschehen, dass der alte Mann kaum gelitten hat. Hier ist er nicht mehr zu Bewusstsein gekommen. Und dann hat sein Herz aufgehört zu schlagen.“
Sie sind erschüttert und brauchen einige Zeit, um diese Nachricht einigermaßen zu verdauen. Die trostlose Atmosphäre in dem verlassenen Haus ist kaum auszuhalten. Um sich abzulenken, überlegen Mutter und Tochter, was für Konsequenzen sich aus der neuen Situation für sie ergeben:
„Wir könnten die belastenden Gegenstände ein für alle Mal entsorgen. Noch weiß niemand etwas davon. Aber was ist, wenn hier noch mehr solcher Überraschungen auf uns lauern?“, gibt die Großnichte zu bedenken. „Dann ist das jetzt nur die Spitze des Eisbergs.“
„Mal bitte nicht den Teufel an die Wand! Sollte Onkel Faustus wirklich etwas damit zu tun haben, kann er deswegen sowieso nicht mehr belangt werden. Aber wenn sich jemand hinter seinem Rücken schuldig gemacht hat, will ich das schon wissen!“, antwortet die Mutter. „Wenn jemand seine Gutmütigkeit schamlos ausgenutzt hat.“
Dem hat die Tochter nichts entgegenzusetzen. Eine Weile drucksen sie noch vor sich hin. Schließlich geben sie sich einen Ruck und benachrichtigen die Polizei. Obwohl sie gegenüber dem Onkel ein schlechtes Gewissen haben. Trotzdem!
„Man kann ja nie wissen …“, sagt die Mutter. „Für alle Fälle. Nicht dass man uns später vorwirft, etwas verheimlicht zu haben“, bekräftigt die Tochter. „Dafür halte ich meinen Kopf nicht hin.“
Kurze Zeit später steht ein Polizeiwagen vor dem Haus. Und in Eibenstädt macht sich ein gut vernetzter, sensationsgieriger Reporter vom „Hochwald-Kurier“ auf den Weg nach Neu-Moritzhain.
Der Tod von Faustus Molenbrick hat die beiden Frauen schwer getroffen. Am späten Abend können sie endlich in aller Stille um ihn trauern.
Elvira, die Nichte.
Ihre Tochter Okka, die Großnichte.
Jede für sich.
Jede allein bei sich zu Hause.



I

1966

Er ist noch nie so lange ohne sie unterwegs gewesen. Ohne seine Eltern: Papa Julius und Mama Christa. Ohne seine Geschwister: die zwei Jahre älteren Zwillinge Maria und Bernd. Alle beneiden ihn, weil er mit den Pfadfindern auf „Große Fahrt“ geht. Klar, die Neugier hat ihn mächtig gepackt. Aufregung und Vorfreude steigern sich von Tag zu Tag. Seine Gruppe ist in Ordnung. Den Führer, Wolfgang Pahlmann, will er sich auf Distanz halten. Irgendetwas an seiner Art stört ihn: Manchmal ist er zu streng, manchmal ist er zu nett.
Jeder verstaut in seinem Tornister, was er in den zwei Wochen unbedingt braucht: Wechselwäsche, Kulturbeutel, Taschenmesser oder Fahrtendolch, Kochgeschirr mit Becher und Essbesteck. Die übrige Ausstattung besteht aus Hordentopf, Proviant, Erste-Hilfe-Set, Streichhölzern, Kerzen, Stablampe, Karten und Kompass. Hinzu kommt das kleine Fahrtenbeil. Damit fällen sie junge Buchen oder Birken für die Zeltstangen. Oder sie hauen dicke Äste für Heringe zurecht und spitzen sie zu. Oder sie machen Kleinholz. Der zusammenklappbare Mini-Spaten gehört auch noch dazu. Damit sie bei starkem Regen Abflussrinnen um das Zelt herum graben können. Sie sind wirklich für alle Fälle gerüstet. Was sie über den persönlichen Bedarf hinaus mitnehmen, teilen sie immer gerecht untereinander auf. Zum Schluss werden die Schlafsäcke in Zeltbahnen oder Regenponchos so fest wie möglich eingerollt, um sie dann an den Tornistern mit Lederriemen festzuschnallen.
„Sieht aus wie ein U, das auf dem Kopf steht“, sagt Georg zu Papa Julius, der ihm beim Zusammenrollen geholfen hat.
Die Tornister sind nicht leicht, lassen sich aber gut tragen. Obwohl sie auf den Rücken der Jungen für Außenstehende vielleicht etwas monströs wirken. Nur Wolfgangs ist für die anderen zu schwer, weil er den Hordentopf übernimmt, in dem sie noch einen Teil der Lebensmittel verstauen. Der Gruppenführer schnallt das große Blechgefäß an den dafür vorgesehenen Laschen auf dem Deckel seines „Affen“ fest. So heißen diese mit braunem Rinderfell bezogenen Tornister tatsächlich: Die Tierhaare weisen Nässe durch Regen oder Schnee ab. In dem Topf kochen sie auf einer mit Steinen abgesicherten Feuerstelle Tütensuppen, Kartoffeln, Nudeln, Grießbrei, Wasser für Tee oder was auch immer. Die Klampfe von Wolfgang tragen sie abwechselnd. Ohne dieses Utensil geht gar nichts. Und: Ohne ausgiebige Pausen würden sie ihre jeweilige Etappe nicht schaffen.
Ihr Zelt ist eine sogenannte Kothe, ein den Behausungen der Samen in Lappland verwandtes Modell. Die Unterseiten der vier zusammengeknüpften Zeltbahnen werden mit Heringen im Boden verankert. Die schmaleren, oberen Enden müssen sie an einem Kreuz aus Ästen befestigen. Dann binden sie zwei dünne Baumstämme an der Spitze so zusammen, dass eine Gabel entsteht, und stellen sie quer über dem Zelt auf. Während jeweils zwei von ihnen die Stämme festhalten, wirft Wolfgang ein Seil über die Gabel und bindet das eine Ende in der Mitte des Kreuzes fest. Dann kriecht er unter die Zeltbahnen und zieht die Kothe so weit hoch, dass die Spannung dem Ganzen einen stabilen Halt gibt. Jetzt wird das freie Seilende am Kreuz fest verknotet und die Kothe steht wie eine Eins. Georg wundert sich jedes Mal aufs Neue, wie genial dieses System funktioniert. Aber nur, wenn die Heringe auch wirklich fest in der Erde verankert sind. Neben allem anderen hängt der erfolgreiche Aufbau der Kothe auch von dem Auffinden einer dafür geeigneten Stelle ab.
Die durch das Kreuz verursachte Öffnung wird zum Schutz gegen Regen mit einer Plane abgedeckt. Ansonsten bildet sie den Rauchabzug, wenn sie in der Mitte des Zeltes ein Feuer brennen lassen. In kalten Nächten wechseln sie sich für die Nachtwache ab, die immer eine volle Stunde dauert. Georg findet es toll, zwischen drei und vier Uhr nachts für Holznachschub zu sorgen und in die Flammen zu starren. Er ist noch nie auf diesem Posten eingeschlafen. Wolfgang weiß das zu schätzen: Georg lässt sich freiwillig für diese kritische Zeitspanne einteilen und man kann sich immer auf ihn verlassen. Die anderen halten in dieser Phase meistens nicht durch und nicken schon nach ein paar Minuten wieder ein. Wenn dann jemand später zufällig aufwacht, ist das Feuer ausgegangen und muss mit der restlichen Glut neu entfacht werden.
Es ist Freitag, als sie endlich auf Fahrt gehen, zwei Tage nach dem Beginn der Sommerferien. Ihre Pfadfindergruppe durchstreift ein einsames Mittelgebirge. Wasser für die Feldflaschen bekommen sie auf den weit verstreuten Bauernhöfen und in den kleinen Dörfern. Die Leute sind hilfsbereit. Manchmal stoßen sie auch auf eine Quelle im Wald. Mit ihrer Ausrüstung können sie sich perfekt im Gelände bewegen. Egal, wie das Wetter ist.
Heute wandern sie durch ein enges Tal. An einer Stelle staut sich der Bach zu einem kleinen See. Das Wasser ist glasklar. Sie wollen sich abkühlen. Georg schlüpft als Erster in die Badehose. Er ist eine Wasserratte. Auf einmal schaut ihn Wolfgang verärgert an.
„In unserem Jungenbund gehen wir nicht mit Klamotten ins Wasser. Entweder wir baden nackt oder wir lassen es bleiben.“
Dann zieht sich der Gruppenführer aus und steht breitbeinig in seiner voll entwickelten Männlichkeit vor ihnen. Georg ist verunsichert und schaut an ihm vorbei. Er fixiert eine Baumwurzel am Ufer. Papa Julius hat sich noch nie so aufdringlich vor ihm entblößt.
„Wollt ihr etwa nachher die nassen Badehosen mit euch herumschleppen?“
Die anderen Jungs grinsen und schon springen sie splitternackt ins frische Nass. Nur Georg nicht. Er geht wie gewohnt ins Wasser und schwimmt am längsten. Danach wringt er seine Badehose aus und wickelte sie in ein Handtuch. Heute Abend bekommt er nichts zu essen. Normalerweise ist das die Strafe für Vergehen wie Rülpsen oder Furzen beim gemeinsamen Einnehmen der Mahlzeiten, wenn sie sich im Kreis gegenübersitzen. Dann darf man zwar in dieser Runde noch zu Ende essen, muss aber beim nächsten Mal aussetzen. Wolfgangs Maxime:
„Ohne Disziplin sind wir ein maroder Haufen! Unser Verhalten soll vorbildlich sein – nicht abschreckend. Wir wollen uns nicht wie Rowdys aufführen. “
Bisher sah Georg das genauso. Aber was ist daran rowdyhaft, wenn er mit seiner Badehose ins Wasser geht? Das ist vollkommen daneben. Manchmal kann ihr Gruppenführer echt unangenehm werden. Trotzdem macht der angebliche Rowdy gute Miene zum bösen Spiel. Mit dieser lächerlichen Maßnahme lässt er sich nicht von dem abbringen, was er für richtig hält. Das Verhalten seines Gruppenführers findet er ausgesprochen unsportlich. Auch von seinen Kameraden ist er enttäuscht:
„Hätte nie gedacht, dass die bei so einer Gemeinheit alle mit Wolfgang an einem Strang ziehen.“
Gerade belegen sie ihre Brotscheiben mit Frühstücksfleisch aus Dosen und teilen die von einem Baum am Feldweg geplünderten Kirschen untereinander auf. Währenddessen machen sie allerhand Witzchen über ihren verklemmten Mitstreiter, allen voran Wolfgang. Niemand ahnt, dass Georg in seiner Geheimtasche im Tornister „für alle Fälle“ eine Vollmilch-Nuss-Schokolade aufbewahrt: zur Sicherheit zusätzlich mit Zeitungspapier umwickelt und in einem dicken Wollstrumpf verstaut. Nachdem er den anderen eine Weile beim Essen zugesehen hat, steht er auf und sagt zur Erklärung:
„Muss mal austreten.“
Er kriecht kurz in die Kothe und holt sich heimlich die Notration. Als er wieder herauskommt, hält er demonstrativ eine halb verbrauchte Rolle Klopapier in der Hand. Wolfgang nickt ihm gnädig zu.
„Vergiss die Schippe nicht!“
Damit meint der Gruppenführer, dass er seine Hinterlassenschaft gut einbuddeln soll. Das ist bei den Pfadfindern so üblich. Georg greift zu dem kleinen Spaten, der neben dem Zelt im Boden steckt, und macht sich auf den Weg. Hinter einem riesigen Buchenstamm setzt er sich ins Laub und lässt es sich schmecken. Ein bisschen zusammengeschmolzen ist die Tafel schon, aber das macht ihm nichts aus:
„Die Form ist mir ganz egal. Wichtig ist der Inhalt. Hm, ist das lecker! Wenn das die anderen wüssten …“
Wie gut, dass ihre Fahrt schon am nächsten Tag zu Ende geht. Als sie spätabends am Bahnhof ankommen, stellen sie sich zum Abschluss in der Eingangshalle im Kreis auf und singen ein Lied, das sie unterwegs eingeübt haben: „Wenn die bunten Fahnen wehen.“1 Zum Abschied ist das so Sitte und gehört zu den ungeschriebenen Gesetzen ihres Bundes. Georg findet es zünftig, nach einer Fahrt so auseinanderzugehen. Die Eltern lauschen dem volltönenden Gesang ihrer Söhne mit voller Begeisterung. Sie können es kaum erwarten, ihre Schützlinge in Empfang zu nehmen.
Papa Julius ist nicht mitgekommen, sondern besucht mit Maria und Bernd das Open-Air-Kino im Eibenstädter Stadtpark. Wolfgang begrüßt Mama Christa und streicht Georg zum Abschied etwas ruppig übers Haar. Georg will sein Geschenk für die Mutter auspacken: den mit großer Mühe aus einer ziemlich harten Wurzel geschnitzten Wicht. Wolfgang hilft ihm, den Tornister abzunehmen. Er trägt ihn sogar bis zum Wagen seiner Mutter und legt ihn in den Kofferraum. Warum behandelt ihn Wolfgang wie ein Kleinkind? Dann wird er Mama Christa den Wicht eben später geben. Für seine Schwester hat er eine Katze geschnitzt, auch aus einer Wurzel. Bernd bekommt einen besonders schönen Rosenquarzstein aus einem der vielen Bachläufe, die sie überqueren mussten. Papa Julius geht erstmal leer aus. Er muss sich noch gedulden, bis er eine der wirklich gelungenen Aufnahmen von unterwegs vergrößert hat. Vielleicht nimmt er die von der Krausen Glucke. So ein riesiges Exemplar dieses Pilzes hat er vorher noch nie gesehen. Das wird seinen Vater bestimmt genauso beeindrucken wie ihn selbst. Aber dafür muss Georg erstmal den Film zu Hause in der kleinen Dunkelkammer im Keller entwickeln. Wolfgang sieht seine Eltern vor dem Bahnhofsgebäude stehen. Sie winken ihnen zu, machen aber keine Anstalten, näher zu kommen. Georg findet, dass sie ganz schön alt aussehen.
„Wusste gar nicht, dass die mich abholen wollten. Umso besser. Wie ich meine Eltern kenne, haben sie es bestimmt supereilig. Georg, dann bis zum nächsten Mal. Ach so, am Samstag in drei Wochen ist Bundestreffen im Landheim. Vergiss nicht, die Fotos mitzubringen. Tschüss, Frau Molenbrick.“
Georg ist elf. Wolfgang hat ein paar Wochen vor ihrer Fahrt den sechzehnten Geburtstag gefeiert und die „Fledermäuse“ in eine Eisdiele eingeladen. Ihre Gruppe hat sich für diesen Namen entschieden. Fledermäuse haben einen fantastischen Orientierungssinn. Mit diesen Lebewesen kennen sie sich bestens aus. Wenn sie auf Fahrt sind, lassen sie keine Gelegenheit aus, die Großen Abendsegler in der Dämmerung zu beobachten. Bis die Dunkelheit sie endgültig verschluckt. Irgendwo sind fast immer welche unterwegs.
Auf der Jagd nach Insekten.

*

Die enge, holprige Hochwälder Landstraße führt von Eibenstädt zur Distrikthauptstadt Clausburg. Seit dem Bau der neuen Schnellstraße wird sie hauptsächlich von den Anwohnern der Ortschaften und Gehöfte genutzt, die direkt an dieser Strecke liegen. An einer einsamen Stelle zweigt ein üppig bewachsener Feldweg mit tief gefurchten Spurrillen von der Fahrbahn ab. Bis nach Ober-Waldheim, der nächsten Ortschaft, sind es von hier noch gut sieben Kilometer. Direkt an der Abzweigung stehen zwei Holzpfähle, an die eine dunkelgrüne, dreizeilig beschriftete Tafel geschraubt ist. Eingerahmt von zwei stilisierten Lilien2 sehen Vorbeikommende darauf den Hinweis „LANDHEIM“. Darunter steht „Pfadfinderbund“ und darunter wiederum „Fahrende Schar“. Die gelbe Schrift hebt sich deutlich vom Untergrund ab.
Das abgelegene Anwesen ist von der Landstraße aus nicht einsehbar. Es reiht sich unauffällig in die von kleinen Baumgruppen, Viehweiden und bestelltem Ackerland geprägte Hügellandschaft ein. Die nächsten Anrainer leben in dem Aussiedlerhof neben der bewaldeten Anhöhe am östlichen Horizont. Wer unter der Woche und außerhalb der Schulferien bis hierher vordringt, begegnet keiner Menschenseele.
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